Das Märchen von der Ta'tuchkönigin


Es war einmal ein Königreich, in dem regierte eine junge Königin, die von jedermann, jederfrau die "Ta'tuchkönigin" genannt wurde, denn sie liebte über alles kleine feine Taschentücher. Stets hielt sie eines in der Hand und besaß viele, viele Truhen voll von reizenden Taschentüchern. Wenn die vielen kleinen Taschentücher gewaschen wurden, vergnügte sich die junge Königin oft damit, sie mit goldenen Klammern rings ums das Schloss herum aufzuhängen, wo sie dann im Winde flatterten wie lauter lustige Wimpel. Alle Untertanen liebten ihre Ta'tuchkönigin, denn sie war stets freundlich und tat viel Gutes.

Nun lebte in einem benachbarten Königreich ein junger König, den nannte man den "Pantoffelkönig". Denn obwohl er ruhmreich und mutig war, liebte er es, in seinem großen Schloss in leichten, leisen Pantoffeln einherzugehen, und von seinem Hofstaat und seiner Dienerschaft verlangte er das gleiche.

Für Besucher lagen ganze Stöße von feinen Filzpantoffeln in allen Größen bereit, die sie an der Pforte anziehen mussten, auch wenn sie Fürsten oder Könige waren. Dafür aber erlaubte der Pantoffelkönig jedermann, jederfrau das Schleifen auf seinen spiegelblanken Parkettböden, so dass es in den Sälen manchmal wie auf einer Schlittschuhbahn zuging.

Dieser junge Pantoffelkönig nun fühlte sich sehr einsam, und als sein Minister ihm vorschlug, die junge Königin aus dem Nachbarreich, welche man die Ta'tuchkönigin nannte, zu heiraten, war er von diesem Plan hoch entzückt.

Er sandte sogleich den Minister zur Werbung in das Ta'tuchkönigreich und gab ihm ein Paket mit, in welches er eigenhändig Geschenke für die Königin eingepackt hatte.

Die Ta'tuchkönigin hörte mit großer Spannung die Werbung an und packte dann das Paket aus. Zuoberst lag ein wunderschönes Spitzentaschentuch mit prächtigem Monogramm und darunter die schönsten kleinen goldgestickten Pantöffelchen, die man sich denken kann. Ganz unten im Paket aber fand sich noch ein gemaltes Bildnis des Pantoffelkönigs, auf dem er so freundlich aussah, dass die kleine Königin dem Werber mit Freuden ihr Jawort gab und dem König sagen ließ, er möge sie am folgenden Sonntag in ihrem Schloss abholen, um dann mit ihr in ihrer Hauptstadt feierlich getraut zu werden. Der Minister wurde noch mit Schokolade und Törte bewirtet und nahm schließlich befriedigt Abschied.

Als die kleine Königin die goldgestickten Pantöffelchen anprobierte, die ihr genau passten, merkte sie, dass in ihnen ein glockenfeines Spielwerk eingebaut war, welches bei ihren Schritten - je nachdem ob sie schnell oder langsam ging - schnell oder langsam  'Freut euch des Lebens" spielte.

Nun aber war noch ein drittes Königreich dort in der Nähe, das gehörte der Handschuhkönigin. Diese war eine wunderschöne, aber stolze und eitle Frau, die sich im stillen Hoffnungen auf die Hand des Pantoffelkönigs machte. Man nannte sie die 'Handschuhkönigin', weil sie Tag und Nacht stets enge Handschuhe aus feinstem Leder trug, die keine Falten schlagen durften, und  auf ihren Befehl hin musste ihr ganzer Hofstaat, alle Minister und all ihre Diener und Dienerinnen Tag und Nacht Handschuhe tragen.

Die Königin berief einen Ministerrat ein und fragte ihre Staatsmänner, ob sich denn gar nichts mehr machen ließe, um den Pantoffelkönig doch noch für sie zu gewinnen. Da schlug einer der Minister, ein schlauer und sehr böser Mann, eine List vor. Er meinte: "Wenn man dem Kutscher des Pantoffelkönigs einen Klumpen Gold und ein Paar neue Handschuhe anbietet, wird dieser gewiss seinen Herrn am Hochzeitsmorgen anstatt ins Ta'tuchreich in das Reich der Handschuhkönigin fahren. Dort soll der König dann, ehe er den Irrtum bemerkt, schnell mit ihr getraut werden und gewiss wird er nach vollzogener Hochzeit, von ihrer Schönheit bezaubert, sich in die veränderte Lage finden, zumal er bisher weder die kleine Ta'tuchkönigin noch ihr Reich mit eigenen Augen gesehen hat."

Dieser Plan gefiel der Handschuhkönigin derart, dass sie vor Freude laut auflachte und rote Handschuhe anzog, worauf der ganze Hofstaat ebenfalls rote Handschuhe anzog. "So macht mir doch nicht alles nach", rief die Königin zornig, worauf der Hofstaat grüne Handschuhe anzog.

Der listige Plan wurde ausgeführt, und der Pantoffelkönig merkte es nicht, dass am Hochzeitsmorgen seine goldene Kutsche an der Wegkreuzung die falsche Straße einschlug und in schnellster Fahrt in den Schlosshof der Handschuhkönigin einfuhr.

Hier standen viele Leute zum Empfang bereit, alle mit Taschentüchern winkend, um ihn irrezuführen, und ein Page überreichte ihm kniend auf einem Purpurkissen ein Paar weiße lederne Handschuhe, welche er zur Truung tragen sollte.

"Ach du liebe Zeit!" dachte der Pantoffelkönig seufzend, als er die engen, unbequemen Dinger überstreifte. Aber nun konnte er nicht mehr zurück und schritt stattlich die marmorne Treppe empor, auf der taschentuchwinkende Edeldamen standen, an deren Spitze ihn die Königin stolz und schneeweiß gekleidet erwartete und ihm ihre schneeweißbehandschuhte Hand zum Kusse entgegenstreckte.

Der König reichte ihr den Arm und führte sie die Treppe hinunter. Dabei vermisste er das Glockenspiel der Pantöffelchen, und er fragte die Königin, ob sie denn sein Geschenk, die goldbestickten Pantoffeln, nicht angezogen habe.

Hierüber geriet diese in die grösste Verlegenheit. Da sie nämlich gar keine Pantoffel besaß, hatte sie sich für diesen Tag von ihrem Küchenmädchen ein Paar ausgeliehen. Voller Erstaunen sah der König die hässlichen, grauen Pantoffelspitzen unter ihrem Prachtgewand hervorkommen, und im selben Augenblick bemerkte er, dass die Taschentücher der Hofdamen und Pagen sämtlich aus Papier waren.

"Ha, Betrug!" rief er aus, riss sich voll Erleichterung die abscheulich drückenden Handschuhe von den Händen, schleuderte sie auf die Trepppe und lief, so schnell ihn seine Pantoffeln trugen, die Stufen hinab. Unten warf er sich in seine goldene Kutsche, ergriff selbst die Zügel und raste davon, um bei der Wegkreuzung die richtige Straße einzuschlagen, denn es war schon sehr spät.

Die arme kleine Ta'tuchkönigin aber wartete schon sehr lange. Sie hatte sich so wunderhübsch geschmückt und lief, das Brauttaschentuch in den Händen, bei jedem Geräusch ans Fenster, um zu schauen, ob der König noch nicht käme, und jedesmal klingelte dabei das Glockenspiel an ihren kleinen Füßen "Freut euch des Lebens". Als aber die festgesetzte Zeit schon lange überschritten war, ging sie noch einmal ganz langsam ans Fenster, und die Glocken tönten langsam und traurig: "... das Lämpchen glüht ..." - und dann mussten die Hofdamen ein anderes Taschentuch bringen, weil das Spitzentaschentuch, das Geschenk vom Pantoffelkönig, ganz nass geweint war.

Da - plötzlich - hörte man rasendes Pferdegetrappel,. und gleich darauf fuhr die goldene Kutsche in vollem Galopp in den Schlosshof ein. Der König selbst hielt die Zügel und blickte zum Fenster empor, wo die traurige kleine Braut stand. Nur einen Augenblick schauten sie sich an, dann wandte sich die Königin um, hob mit beiden Händen ihr rauschendes Silbergewand ein wenig hoch und lief mit ihren kleinen flinken Füßen ganz, ganz schnell die fünfzehn Stufen der Schlosstrappe hinab, und das Glockenspiel in den goldgestickten Pantöffelchen sang ganz, ganz schnell und lustig: "Freut ...euch...des Le...bens...,weil...noch...das...Lämp...chen...glüht..., pflük ...ket... die ... Ro...se ..., eh... sie ... ver...", und bei "blüht" fiel die Königin dem König, der sie auffing, um den Hals.

Er wischte ihr mit seinem großen, seidenen Taschentuch die letzten Tränchen von den Wangen, und nun stiegen beide in die goldene Kutsche und fuhren hinab in die Hauptstadt.

Sämtliche Schulkinder standen an den Straßenrändern und winkten, und da die junge Königin zur Feier des Tages an jedes Kind ihres Reiches nicht nur ein Taschentuch, sondern auch noch eine Tafel Schokolade hatte verteilen lassen, waren viele der winkenden Tücher, weil die Kinder so lange hatten warten müssen, voll brauner Flecke.

Die Sonne schien, und die Glocken läuteten, die Kirchentür war schon weit offen, und am Altar stand der Pfarrer und wischte sich die Freudentränen aus den Augen mit einem sehr großen weißen Taschentuch.

Und so wurdenh die beiden getraut, und sie lebten und regierten glücklich und einträchtig miteinander, aber - Handschuhe zogen alle beide nie wieder an.